2. 1892 – 1894  Frühe politische Aktivität und erste Gefängnisbesinnung

Die politische Verwirklichung des Kulturoptimismus

Ab Juni 1892 lebte Gustav Landauer wieder in Berlin. In Urach gestaltete er, mit dem Revolutionsroman „Der Todesprediger“, seinen politischen Standort literarisch. Am 24. 2.1892, bevor Landauer nach Urach ging, trat er dem „Verein der Unabhängigen Sozialisten“ bei. Dieser „Verein“ wurde von den sogenannten „Jungen“ 1891 gegründet. Ihnen war wichtig den Parlamentarismus, dem sich die sozialdemokratischen Führer immer mehr annäherten, als der revolutionären Sache der Arbeiterschaft entgegenstehend zu verurteilen. Ihr Kampfblatt war der „Sozialist“. Februar 1892 trat Gustav Landauer dem Herausgeberkollektiv bei. Am 20.  8. erschien, ungezeichnet sein erster Artikel „Die moralische Sozialdemokratie“. Im selben Monat besprach Landauer Eugen Dührings „Kursus der National- und Sozialökonomie“, am 22.10 läßt er den Aufsatz „Dühringianer und Marxisten“ folgen.

Mit diesen drei Artikeln konkretisierte Gustav Landauer die im „Todesprediger“ angezeigte „Utopie“. Das der Kämpfer für die „Utopie“ nur dieser, und nicht den bürgerlichen Einrichtungen, sich verpflichtet weiß wird im Moralartikel gezeigt. Die Gerichte und deren Urteile sind bürgerliche, die bereits von der Sozialdemokratischen Partei anerkannt werden. Dem „atheistisch - sozialistischen Arbeiter“ ist diese sozialdemokratische Haltung ein Verrat der „Utopie“. Dem utopischen Kämpfer ist nicht der bürgerliche Staat das wichtigste, ihm ist sein Streben nach der Verwirklichung des aberglaubensfreien „Übermenschen“, dem sich mit  wissenschaftlich - künstlerischen Weltgestalten genähert wird, das wichtigste. Gegen dieses revolutionäre Menschenverständnis, mit der die bürgerliche Ordnung bekämpft wurde, ging die politische Polizei des Kaiserstaates vor. Der erste Artikel, der mit Landauer gezeichnet ist, stellt ein „Referat über Eugen Dührings Kursus der National- und Sozialökonomie“ dar. Dührings Buch, und die Lehre Karl Marx kommen in der Sache zum gleichen Resultat: Die bürgerliche Arbeit verknechtet den arbeitenden Menschen, damit werde ihm die Freiheit genommen. Beide Autoren gehen aber von unterschiedlichen Standpunkten aus, auch ist die Darstellung des Kapitalismus unterschiedlich. Dühring schreibe begrifflich anschaulicher als Marx, der „die Verwandlung lebendig fließender Realitäten in tote und feste Begriffe“ betreibe. Damit leiste Karl Marx dogmatischer Denkweise Raum, das mannigfaltige Welterleben werde mit toten Begriffen vereinnahmt. Die Kräfte zur Verwirklichung des Kulturoptimismus werden damit eingeschränkt, oder gar verhindert. Gegen diese Tendenz bei Marx wendet sich Gustav Landauer. Dühring dagegen beschreibe die Welt mit anschaulich, lebendigen Begriffen. Die Begriffe, mit denen wir ja die Dinge der Welt denken, soweit sie uns - gemäß unserer materialistischen Sinnenstruktur -  bewußt wurden, müssen anschauliche sein. Dieses ist Landauer wichtig: Wird lebendiges, sinnlich anschauliches Denken auf leere, abstrakte Begrifflichkeit reduziert, wird die Welt nicht mehr ganzheitlich erlebt. Das lebendige Welterleben ist nicht vor dogmatischer Denkweise gefeit. Marx schreibt abstrakt: Kapitalistische Ausbeutung beruht auf „Erzeugung des Mehrwertes“. Einfacher Dühring: Kapitalistische Ausbeutung beruht auf „Aneignung, welcher keine Gegenleistung entspricht“. Je mehr die abstrakte Begrifflichkeit zunimmt, um so mehr besteht die Gefahr dogmatischen Denkens. Warum? Mit unanschaulichen Allgemeinbegriffen wird nicht mehr das unmittelbare, lebendig sinnliche Welterleben ergriffen, sondern davon abstrahierte, tote Worte. Die menschlichen Affekte, die Träume, Wünsche... finden mit verkehrtem Denken keine realistische Basis. Die menschlichen Leidenschaften sind aber vorhanden, und diese müssen, auch für den zu verwirklichenden Kulturoptimismus, berücksichtigt werden. Wird der Einfluß der Affektionen nicht für das aberglaubensfreie, d. h. anarchistische Denken realistisch beachtet, fehlt dem Sozialismus auch der leidenschaftliche Wille zur Verwirklichung der „Utopie!“

Gustav Landauer grenzt sich von einer abstrakt dogmatischen Terminologie, die er im Ansatz bei Karl Marx findet, ab. Das Resultat dogmatischen Denkens ist erstarrte Begrifflichkeit, mit welcher der menschliche Verstand die Welt einseitig rational reflektiert. Landauer hat aber nicht nur gegen Marx Vorbehalte, auch Dühring wird kritisiert. Wenn Dühring gegen Menschen hetzt ist Landauer nicht mehr auf Seiten Dührings. Gustav Landauer versuchte die Kritik am Kapitalismus, und deren unterschiedliche Darstellungen sachlich zu erfassen. Die sachliche Auseinandersetzung, ob diese für die „Utopie“ gewinnbringend ist, entscheidet über das Urteil der Autoren und deren Werke. Nun zum inhaltlichen des Textes. Dühring legt dar:

 
1 Der „Nationalreichtum“ gehört nicht der Nation, sondern einem kleinen Teil der Nation, den Bürgerlichen.
2. Die Anwendung technischer Erfindungen auf die Arbeitswelt hatte nicht zur Folge, das alle Menschen frei wurden. Die  Bürgerlichen, in dessen Besitz die Technik ist, haben den Sklaven der Handarbeit in den Sklaven der Maschine verwandelt.
3. Nicht der Welthandel schafft den Reichtum, sondern die nationale Wirtschaft, welche „ein eignes reichhaltiges Leben“ aufweist.
4. Das Bürgertum, mit Hilfe der Technik, des Bodenbesitzes „wirtschaftet durch das Volk, nicht aber für das Volk, denn sie lassen ihm freiwillig nicht mehr als was auch die Maschine beansprucht“.
5. Das Bürgertum sichert seine Macht auch moralisch, z. b. mit der These, der Mensch sei ein Raubtier, sei. 
6. Die Entlohnung des arbeitenden Menschen, die nach den Interessen des Bürgertums geregelt wird, entspricht nicht der geleisteten Arbeit. Dieses ungerechte Entlohnungssystem ist kein endgültiges, vielmehr umfaßt dieses die Unruhe der Ausgebeuteten.
7. Setzt das Bürgertum seine Interessen mit der Technik durch, lebt die Allgemeinheit gemäß angewandter bürgerlicher Technik.
8. Die „Arbeiterbündnisse“, welche für die Verbesserung der Löhne und der Verkürzung der Arbeitszeit sich einsetzen, sind eine Folge der bürgerlichen Interessen.
9. Das Individuum ist mehr als das bürgerliche und Gemeininteresse. Es ist auch mehr als staatliche Macht, der Mensch, nicht das Dogma macht lebendige Geschichte.
Mit diesen Ausführungen ist die Verwirklichung des Kulturoptimismus politisch geworden: Der Nationalreichtum, welcher auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft beruht, und von bürgerlichen Interessen mit der Moral, dem Staat, der Technik abgesichert wird, muß von unterdrückten Menschen überwunden werden. Das Verhältnis des Raubes und Abspeisung, das mit den bürgerlichen Absichten geregelt wird, enthalte den Hebel zur Entmachtung des Bürgertums. Wird Ausbeutung und Entlohnung nicht mehr im bürgerlichen Sinne beurteilt, sondern mit dem zu verwirklichenden Kulturoptimismus, könnte die ekelerregende Gegenwart überwunden werden. Das ganzheitliche Welterleben, welches die libertär sozialistische Kultur verwirklicht, kann und müßte bereits heute aktuell sein. Diese Sache müßte der deutschen Arbeiterschaft nahegelegt werden, dieser Aufgabe widmete sich Gustav Landauer in diesen Jahren. Mit den theoretisch - politischen Texten, die er im „Sozialist“ veröffentlichte, sollte die Arbeiterschaft geistig aufgeklärt werden. Nicht mehr der bürgerliche, und auch nicht mehr der sozialdemokratische Mensch, sondern der individuelle Mensch, der die materialistisch - geistige Freiheit, das ganzheitliche Weltgestalten lebt, sollte sein.

Am 22.10.1892 erschien im „Sozialist“ der Aufsatz „Dühringianer und Marxist“. Marx, obwohl er sein System weitgehend in starren Begriffen darlegte, sei ein großer, leidenschaftlicher Denker. In seiner Denkweise liege aber auch gefährliches. Groß ist sein Denken, weil Marx die Vielfalt der Welt systematisch - begrifflich, formulierte. Mit seiner materialistischen Begrifflichkeit versuchte er die Welt und den Menschen, ohne dem Welterleben seine Ganzheit zu nehmen, exakt wissenschaftlich zu begreifen. Vor diesem leidenschaftlichen Denker verblaßt Eugen Dühring, im fehle begriffliche Systematik. Dühring denkt mehr in „enzyklopädischer Manier“. Karl Marx sei nicht der Begründer einer materialistischen Dogmatik, obwohl er eine Neigung zu dieser besitzt - die Vielfalt des Welterlebens auf Dogmen zu reduzieren. Vielmehr strebte er eine „unweigerliche, unwiderlegbare Erkenntnis der Vergangenheit und Gegenwart, aus der sich die Zukunft mit mathematischer Sicherheit ableiten ließe“, an. Die Größe Marx bestehe mithin darin das er diese Erkenntnis nicht verabsolutierte. Die Absolutsetzung relativer Begriffe, und deren systematischer Ausbau zur „materialistischen Geschichtsschreibung" wurde erst von seinem Nachfolger, der marxistischen Sozialdemokratie betrieben. Die „Marxisten“ reduzieren das Welterleben auf starre Begrifflichkeit, die von anarchistischer Denkweise als politischer Dogmatismus aufgedeckt wird. Marxistisches Denken und Handeln vereinnahme ganzheitliche Lebensweise. Dann wird nicht mehr ganzheitliches Erleben, welches die Welt erst lebenswert gestaltet in Macht stehen, sondern nur noch das vom egoistischen Verstand beherrschbare wird dann gelten.

Wird die Welt auf das Dogma der „Marxisten“ reduziert, ist der Sozialismus, der doch als Kulturoptimismus leidenschaftlich verwirklicht werden soll, keine Sache mehr für die Kämpfer der „Utopie“. Um den Menschen aus der „alten Schablone“ zu befreien, muß jegliches Dogma der anarchistischen Denkweise entgegenstehend gewußt werden. Der kalte Sozialismus werde z. b. vom Marxisten Paul Ernst und dessen Aufsatz „Die Wissenschaft der Sozialdemokratie“ repräsentiert. Ernst meint die Welt auf Mathematik reduzieren zu können. Auch Gustav Landauer zeigte in seinem frühen Religionsaufsatz das der Mathematik, für die Erklärung der Welt, eine wichtige Rolle zukommt. Der gewichtige Unterschied zu Ernst besteht aber darin, das Landauer die Methode, und die Resultate der Mathematik nicht verabsolutiert. Wird sinnliches mit Hilfe der Mathematik quantitativ erfaßt, ist damit keine absolute Erkenntnis gewonnen, sondern lediglich materialistisch - systematisches lebenspraktisches Wissen. „Marxisten“ dagegen räumen der Mathematik einen absoluten Stellenwert zu, sie verzerren damit ganzheitliches Welterleben. Mit dieser Reduzierung, hier also die mathematische und nicht die begriffliche, wird die politische Verwirklichung der „Utopie“ behindert. Paul Ernst „redet nur von der Wissenschaft und der Selbstbewegung der Realitäten“. Konkret bedeutet dieses: Der Arbeiterschaft steht es nicht zu, wegen der dogmatisch mathematischen Welterkenntnis, die als materialistische Geschichtsschreibung postuliert wird, geschichtlich gestaltende Macht zu sein. Die „Marxisten“ verhindern damit den revolutionären Impuls der Arbeiterschaft, sie unterdrücken die Verwirklichung des Kulturoptimismus. Sie setzen nicht auf die politische Verwirklichung der „Utopie“, sondern auf jenes Geschichtsverständnis das sich, unabhängig vom leidenschaftlichen Befreiungswillen, als materialistischer Entwicklungsprozeß mathematisch erkennen ließe. Marxistisches Denken beruht auf der Verabsolutierung der Mathematik und der Sinnlichkeit; damit wird die Revolution der Arbeiterschaft zu einen unproduktiven geschichtlichen Bestand degradiert. Dieser verkehrten Denkweise fehlt die Einsicht das der Mensch, mit Hilfe von Mathematik und sozialer Kunst, seine Geschichte ganzheitlich gestalten könnte. Das Mathematik den Gang der Welt, unabhängig vom menschlichen Gestaltungswillen bestimmen könnte: Diese Annahme bezeichnet Gustav Landauer eine „kranke Resignation“. Diese Resignation ist die Folge davon das der Mensch nicht mehr ganzheitlich lebt. „Utopien“ zu schildern, und zu verwirklichen, und damit die verkehrten Denkweisen zu überwinden, gilt den „Marxisten“ - weil sie die absolute Erkenntnis postulieren - als Unsinn. Sie setzen auf verabsolutierte mathematisches Erkennen einer geschichtlichen Entwicklung.

Gegen diese verkehrte Sozialdemokratische Denkweise setzte Gustav Landauer seinen Kulturoptimismus. Der Mensch liebt das, was er erstrebt, und dieses ist immer mehr als sein begriffliches Verstandeswissen erfinden kann. Wird vom ganzheitlichen Welterleben, daß das materialistisch Gewollte und Gefühlte berücksichtigt, der Verstand isoliert, wird die Wahrnehmung der Welt auf dogmatische Begrifflichkeit reduziert. Die Sozialdemokratie nimmt ein Entwicklungsgesetz nicht als These, sondern als Dogma. Die „Marxisten“ mechanisieren mit dem Entwicklungsgesetz die menschliche Geschichte und berauben damit der „Utopie“ ihre Macht. Diese Haltung teilt die dogmatisch - materialistische Sozialdemokratie mit dem „extremen Konservatismus“. „Die Konservativen sagen: Alles was ist, ist gut, denn es hat sich historisch entwickelt. Die Marxisten sagen: Alles was werden soll ist gut denn es hat sich historisch entwickelt“. Richtig ist „ Alles was bisher geschehen ist, ist nicht ohne bedingende Ursache geschehen, die wir nachträglich vielfach erkennen können“. Gustav Landauer setzt gegen die verabsolutierten Verallgemeinerungen entwicklungsgeschichtlichen Wissens eine wissenschaftlich - künstlerische Bescheidenheit, die  ganzheitliches Welterleben berücksichtigt. Ganzheitliches Leben kennt den menschlichen Willen immer als materialistisch verursachten, der mit dem Gefühlten und Gewußten unzertrennlich verbunden bleibt. Diese Einsicht kann von keiner Theorie verhindert werden. Auch nicht mit dem dogmatisch - marxistischen Dogma, sondern damit zeige sich „die schwächliche Natur“ des Menschen! Mit der Einsicht in die materialistische Verursachung menschlichen Strebens wird der Wille materialistisch determiniert gewußt. Materialistisches Wissen und materialistischer Wille sind identisch. Dieses Wissen ist nicht nur von gegenwärtigen Eindrücken beeinflußt; unser Wissen ist ebenso von der Vergangenheit und Zukunft geprägt. Ganzheitliches Welterleben berücksichtigt nicht nur wissenschaftlich rationale Verstandeskraft, sondern auch Gefühltes und Gewolltes, das künstlerisch gestaltet werden könne. Die „beschränkte Natur der menschlichen Erkenntnis“ wird vom marxistischen Denken verkannt: Dagegen verlangt Gustav Landauer: „Wir brauchen noch größere und kühnere Geister und vor allem muß überall in den Massen der einzelne zum Bewußtsein seiner Kraft und Besonderheit kommen“. Landauer versteht sich als einer von diesen kühneren Menschen. Damit die „Utopie“, die Verwirklichung der sozialen Kultur in der Gegenwart und Zukunft vorhanden ist, müssten Menschen existieren die jeglichen Dogmatismus bekämpfen. Diese Menschen, vermutete Gustav Landauer, lassen sich in der Arbeiterschaft finden. Die Arbeiterschaft müßte sich vom marxistischen Dogmatismus, und vom Parlamentarismus befreien. Materialistisches Dogma, und Parlamentarismus müßten als Verhinderung der „Utopie“ gewußt werden. Um dieses zu erreichen schrieb Gustav Landauer die drei Aufsätze, damit wurde die Grundlage für die vielen, ab März 1893 folgenden Artikel im „Sozialist“ gelegt.

Gustav Landauer bemühte sich aber nicht nur innerhalb der politischen Sphäre um die Verwirklichung der „Utopie“. Die Verwirklichung ganzheitlichen Welterlebens besitzt auch eine literarische Dimension. Oktober 1892 gründete er mit Bruno Wille die „Neue Freie Volksbühne“. Unabhängig von der Sozialdemokratie war diese Bühne der sozialen Kunst verpflichtet, die literarisch gegen die erstarrte Gegenwart kämpfte. Hier lernte Landauer die Schneiderin Margarethe Leuschner kennen. Die beiden heiraten zwei Monate später. Ebenfalls im Oktober 1892 lernte Gustav Landauer Moritz von Egidy kennen. Von Egidy stammte aus bürgerlichen Kreisen und setzte sich für das dogmenfreie Christentum ein, mit dem die Gesellschaft sozial gestaltet werden könnte. Auch von Egidy versuchte jenseits klassenkämpferischen Denkens und Handelns die Gegenwart lebendig zu gestalten. Diese Begegnung muß für Landauer, auch für sein Verständnis der „Utopie“, wichtig gewesen sein. Bemühten sich doch beide um ein Menschenverständnis das vom dogmatischen Denken und Glauben befreit ist.

Am 2.11.1892 hielt Landauer einen Vortrag mit dem Titel „Max Stirner und der Individualanarchismus“. Der Vortrag „Ist Religion Privatsache“ folgte am 12.12.1892.  Frühjahr 1893 erschien in der Neuen Zeit der Artikel „Bürgerliche Kunst und besitzlose Klasse“, der Landauer zugeschrieben wird. Der Autor tritt für die wissenschaftliche Sozialdemokratie, und für soziale Kunst ein, die mit dem Einfluß der Sozialdemokratie stärker werde. Landauer wußte aber seit 1891 das Kunst mehr ist als Realismus. Das die Sozialdemokratie sich nicht für die „Utopie“ einsetzt wußte Landauer ebenfalls 1891. Deshalb kann dieser Aufsatz nicht von Gustav Landauer geschrieben worden sein. Februar 1893 ist er Redakteur der Zeitschrift „Sozialist, Organ der unabhängigen Sozialisten“. Die Gestalter dieser Zeitschrift verstanden sich als antiparlamentarisch. Ihnen ging die Kluft zwischen Arbeiterschaft, und sozialdemokratischer Führung auf; die Parteispitze befasse sich nicht mehr um die Revolution der arbeitenden Menschen. Diese politische Kluft, die Landauer bereits im „Todesprediger“ literarisch beschrieb, nutzte er für die Durchsetzung des sozialen Kulturoptimismus. Mit dem „Sozialist“ ergab sich die Möglichkeit nicht nur den Parlamentarismus als utopiefeindlich aufzuzeigen. Seit dem Roman, und besonders mit den drei frühen Sozialistartikeln kannte Landauer die marxistische Dogmatik ebenfalls als Verhinderung des sozialistischen Ideals. Er mußte also den „Sozialist“ um die Kritik an den Dogmen ergänzen! Dogmatisch marxistische Wissenschaft und Parlamentarismus, ergo dogmatisch - politisches Denken und Handeln, müßte der Arbeiterschaft auf ihren Weg zur Freiheit, als der „Utopie“ entgegenstehend gezeigt werden. Das der soziale Kulturoptimismus von selbstbewußten Arbeitern, die den Stellenwert ökonomischer Verhältnisse realistisch einschätzen, verwirklicht werde: Dafür nutzte Gustav Landauer den „Sozialist“. In diesem Sinne arbeitete Landauer seine, dort veröffentlichten, Texte heraus.

Diese Verwirklichung der „Utopie“, die sich also im politischen Raum realisieren sollte, stand nicht nur zur Sozialdemokratie, sondern auch zu einigen „Unabhängigen“ in Opposition! Vor diesen Hintergrund muß der Aufsatz „Wie nennen wir uns?“ vom 1 .4.1893 verstanden werden. Denn hier liegen die Grundlagen für ein adäquates Verständnis von Sozialismus und Anarchismus. Vom Anarchismus wollten viele „Unabhängige“ nichts wissen. Dieses unterschiedliche Verständnis innerhalb der „Unabhängigen Sozialisten“ zeigte sich bereits mit den Artikeln vom 8. 4. und 15. 4.1893. Diese unterschiedlichen Auffassungen erreichten am 18. 6.1893 einen Höhepunkt. Zuvor aber zum Aufsatz vom 1. 4.1893. Innerhalb der „Jungen“ waren zwei Lager vorhanden, und zwar die Anarchisten und die Unabhängigen. Wer marxistische Dogmatik und Parlamentarismus ablehnte, verstand sich als Anarchist. Wer der marxistischen Geschichtsschreibung anhing, aber gegen das Verhalten der sozialdemokratischen Führerschaft in Opposition stand, war Unabhängiger. Den Anarchisten wußte Landauer sich zugehörig; aber nicht kritiklos. Konkret: Die konsequente Ablehnung der Sozialdemokratie enthält keine Perspektive. Mit der Verneinung der Partei ist zwar der erste Befreiungsschritt gegangen, dieser Verneinung müßte aber zugleich positives, eben der zu verwirklichende soziale Kulturoptimismus folgen! An Stelle der sozialdemokratischen Partei müßte sich die Arbeiterschaft in selbstgeschaffenen Gewerkschaften zusammenfinden, und für die „Utopie“ kämpfen. Die politische Verwirklichung des sozialen Kulturoptimismus könnte sich mit dem anarchistischen Flügel der „Unabhängigen Sozialisten“ konkretisieren. Den Unabhängigen steht Landauer skeptischer gegenüber. Diese lehnen zwar den Parlamentarismus, nicht aber die marxistische Dogmatik ab. Er setzte dennoch auf die nichtanarchistischen Unabhängigen. Sie könnten sich ebenfalls der „Gestaltung einer zukünftigen freien Gesellschaft“ widmen. „Wenn die Dinge aber so liegen,... dann ist... die Frage aufzuwerfen und zu beantworten: Wie nennen wir uns? Anarchisten oder unabhängige Sozialisten?“ Für Landauer war klar: „Nennen wir uns Anarchisten und kämpfen wir solidarisch mit unseren revolutionären Genossen aller Länder!“ Gegen dieses Verständnis eines aufzubauenden Anarchistischen Sozialismus argumentierte ein Unabhängiger. In einen Brief vom 8. 4. wird der Anarchismus für die marxistische Wissenschaft abgelehnt. Ein weiterer Beitrag kam am 15. 4. von W. Wiese, der Landauer nahe stand. Alle Sozialisten seien sich einig: Der Sozialismus ist  gesellschaftliches „zusammenarbeiten zum Zwecke der Güterproduktion“. Unterschiedlich wird aber die Frage beantwortet: Wie soll die gemeinschaftliche Güterproduktion strukturiert sein, staatssozialistisch, demokratisch - sozialistisch oder anarchistisch - sozialistisch?

Nun zum Text vom 15. 4.1893. Die deutsche Arbeiterschaft sei immer anarchistisch und sozialdemokratisch gewesen. Mit dem Etablieren der Sozialdemokratie bekamen die Anarchisten nicht nur die Bürgerlichen, sondern auch die sozialdemokratische Parteipolitik zum Gegner. Seitdem behauptet die Sozialdemokratie das Anarchisten keine Sozialisten seien. Mit dieser Behauptung wird aber die Sache der Anarchistischen Sozialisten völlig mißverstanden: Das dogmatische Denken zu bekämpfen und eine freiheitliche Gesellschaft zu verwirklichen. Mit der Sozialdemokratie kann dieses utopische Ziel aber nicht verwirklicht werden. Sie ist seit ihrer Etablierung für das Bürgertum hoffähig geworden. Vereinnahmte Arbeiterschaft und korrupte Arbeiterführer, sowie Bürgerliche haben mit dem Parlament eine gemeinsame Basis gefunden, die der „Utopie“ nicht würdig ist. Die Verwirklichung der sozialen Kultur ist nur mit dem ganzheitlichen wissenschaftlich - künstlerischen Geist möglich, der sich, u. a. in den von Arbeitern geschaffenen Einrichtungen manifestieren könnte. Gustav Landauer stellte der Sozialdemokratie und den Unabhängigen den Anarchistischen Sozialismus entgegen. Mit den Ideen Eugen Dührings und dessen Anhänger Benedict Friedländer, sowie der Auseinandersetzung mit Max Stirner, wird dieser Sozialismus verdeutlicht. „Wir wollen also alle zusammen den Individualismus und, um ihn zu ermöglichen durch eine vernünftige wirtschaftliche Grundlage, den Sozialismus“. Das vom Bürgertum, und von der Sozialdemokratie gewünschte Herdentier, sowie die kapitalistische Ordnung könnten überwunden werden. „Es erscheint mir eben absolut sicher, das wir an einen bedeutungsvollen Moment stehen, wo die revolutionären Sozialisten aller Richtungen und aller Länder sich einigen können, gegenüber der Bourgeoisie sowohl, als auch den staatssozialistischen Richtungen. Ich habe meine Stimme erhoben, damit dieser Augenblick nicht ungenützt vorübergehe“.

Die „Utopie“ Gustav Landauers wurde in den Sommermonaten 1893 konkretisiert. In oppositionellen Kräften der Arbeiterschaft fand er die Möglichkeit den Kulturoptimismus voranzutreiben. Abseits bürgerlicher, sowie sozialdemokratischer Interessen versteht sich Landauer als Anwalt und Aufklärer der Arbeiterschaft. Die Arbeiter könnten und müßten den Parlamentarismus, sowie den wissenschaftlichen Dogmatismus als der zu verwirklichenden sozialen Kultur entgegenstehendes kennen. Gustav Landauer verstand sich nun als Anarchistischer Sozialist. Vom Mai 1893 bis Oktober 1893 schrieb er viele Aufsätze im „Sozialist“. Dort verfolgte er leidenschaftlich und konsequent die Entlarvung sozialdemokratischer Führerschaft, die mit dem Parlamentarismus Arbeiter vereinnahmen und zu Herdentieren degradieren. Die Arbeiter könnten aber mutige, herzhafte Kämpfer für die „Utopie“ sein, vom politischen Aberglauben der Gegenwart befreit, könnten sie eine herrschaftsfreie, soziale Gesellschaft aufbauen.

Am 18. 6.1893 traten die inneren Spannungen der „Unabhängigen“ offen zu Tage. Die Anhänger der marxistisch dogmatischen Denkweise trennten sich von den Anarchisten. Der „Sozialist“ wurde damit das Organ der revolutionären Sozialisten. Obwohl Gustav Landauer bereits am 22. 7.1893 die Redaktionsarbeit niederlegte, gestaltete er das Blatt in seinem Sinne. Der herrschaftsfreie Sozialismus, der nicht vom wissenschaftlichen Dogmatismus und dem Parlamentarismus, sondern von einen aberglaubensfreien, d. h. ganzheitlich wissenschaftlich - künstlerischen Weltgestalten bestimmt wird, fand seine Stimme. Das Theorieorgan der Anarchisten müßte mit einer Arbeiterschaft ergänzt werden, welche die Gewerkschaften als „ein vorbereitendes Gebilde für die sozialistische Gesellschaft“ kennen. Die, von den Arbeitern geschaffenen Gewerkschaften, sind die Alternative zur deterministischen Wissenschaft der „Marxisten“ und dem bürgerlichen Staat. Bevor Gustav Landauer die „gewerkschaftlichen Organisationen“ als praktische Alternative zur Sozialdemokratie, sowie zum Bürgertum kannte, wußte er bereits seinen Kulturoptimismus. Mit dem frühen Religionsaufsatz, den Kunstartikeln und dem Revolutionsroman wurde u. a. der Stellenwert der Mathematik, einer sozialen Kunst bestimmt. Diese Einsichten wurden bei der Beurteilung der politischen Gegenwart nicht aufgegeben, im Gegenteil: Diese bestimmten weitgehend Landauers politisches Urteil! Damit unterscheidet sich sein Verständnis, z. b. der Gewerkschaften grundlegend von dem der sozialdemokratischen Partei. Der Sozialdemokratie sind Gewerkschaften ein Mittel ihrer parlamentarischen Machtstellung. Landauer sind Gewerkschaften nur dann revolutionär, wenn sie vom ganzheitlichen Geist der „Idealisten und Anarchisten“ getragen werden. Ist dieser Geist nicht vorhanden, sind Gewerkschaften vom abergläubischen Denken, z. b. dem marxistischen Geschichtsdogma vereinnahmt. Damit wird den Gewerkschaften der Spielraum genommen, mit dem sie die Verwirklichung der sozialistischen Kultur betreiben könnten. Das dogmenfreie Denken und Handeln des leidenschaftlichen Utopisten ist eine Basis, in der eine sozialistische Kultur lebendig gründe. Die Förderung freiheitlichen Denkens wird im „Sozialist“ ebenfalls berücksichtigt. So am 15. 7.1893 in dem Artikel „Die geschmähte Philosophie“. Wissenschaftlicher Sozialismus, mit dem Geschichtsdogma und der Degradierung des Individuums zum Herdentier macht Philosophie nicht überflüssig, sondern im Gegenteil notwendig. Nicht das Dogma, sondern die anarchistisch sozialistische Kultur soll sein. Deswegen muß antidogmatisches Denken auch Philosophisches Denken sein. Der Geist einer sozialen Kultur kennt materialistisches Verstandesdenken nicht als objektives Wissen, z. b. einer marxistischen Entwicklungsgeschichte. Unser materialistisches Wissen ist „nur“ unser begrifflicher Ausdruck unseres Gefühlten und Gewollten. Wird unser körperliches Wissen von den anderen Affektionen gelöst - theoretisch in der Wissenschaft, praktisch mit Moral - kann das Welterleben nicht mehr in seiner Ganzheit gestaltet werden. Das materialistisch ganzheitliche Denken ist der Geist der „Utopie“. Dieser philosophische Geist und der freiheitliche Sozialismus gehören zusammen! Diese Überzeugung ist nicht von einer Klassenangehörigkeit abhängig. Den Aberglauben einer Zeitepoche zu kennen, und diesem widerstehen, sei allen Menschen grundsätzlich, unabhängig von gesellschaftlicher Angehörigkeit, möglich.

Juli 1893 ist Gustav Landauer als Delegierter der Berliner Anarchisten auf dem Züricher Kongreß. Dort vertrat er den anarchistischen Sozialismus. Während er in Zürich weilt, erscheint am 5. 8.1893 im „Sozialist“ der Aufsatz „Etwas über Moral“. Moralvorstellungen repräsentieren den egoistischen Verstand, nicht ganzheitliches Welterleben. Der Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft ist nur mit antidogmatischem Denken und Handeln möglich. Der immanente, und der transzendente Gott, und die damit vorhandenen Vorstellungen sind nur für die daran Glaubenden bindend. Die Begriffe Gott, Moral sind zusammenspekulierte Begriffe, denen sinnlich konkretes nicht entspricht! Konkrete Erfahrungen sind begrifflich - verallgemeinert wurden. Das Ergebnis sind unanschauliche Allgemeinbegriffe, mit denen der Mensch vom ganzheitlichen Leben sich isoliert. Landauer bezeichnet diese, vom sinnlichen Erleben entfremdeten Begriffe, Gott, Moral, Gesetz, Staat, Recht, Ehre eine „zweite Ordnung“ des Denkens. „Ich kann sagen: Gott oder Ehre oder Moral das gibt es nicht; aber dieser Stuhl, der vor mir steht, oder dieses Tintenfaß kann ich nicht leugnen“. Die konkrete Dinglichkeit, in welcher der Mensch - mit seinem körperlichen Bewußtsein - sich immer schon befindet, ist nicht zu leugnen, die Resultate und die Spekulation mit unanschaulichen Begriffen, die aber sind zu leugnen. Das Denken mit leeren Allgemeinbegriffen erreicht die „erste Ordnung“, das ganzheitliche dingliche Welterleben, nicht mehr. Mit den begrifflichen Spekulationen verfällt der Mensch in eine selbst geschaffene Knechtschaft, die ganzheitliche Welterfahrung ist dagegen „nicht in der Lage eine menschliche Knechtschaft zu begründen“.

Mit diesen Texten zeigt Gustav Landauer die geistigen Grundlagen des Sozialismus. Das dogmatische Denken, der zweiten Ordnung zugehörig, verhindert die ganzheitliche Weltgestaltung. Der Kämpfer der „Utopie“ weiß sich dem Denken der „ersten Ordnung“ verpflichtet. Er kennt den Gottesbegriff und die Moralvorstellungen als Reflektion des einseitigen, egoistischen Verstandes. Philosophisches Denken und wissenschaftlich - künstlerisches Weltgestalten gehören zusammen. Anarchistischer Geist, das dogmenfreie, ganzheitliche Denken ist die Vorraussetzung libertären Sozialismus. Anarchistischer Geist und freiheitlicher Sozialismus sind notwendigerweise zusammengehörig. September 1893 hielt sich Landauer im Rheinland und in Westfalen auf. Dort wirbt er für den anarchistischen Sozialismus. Der „Todesprediger“ erschien ebenfalls im September. Landauers Einsatz entging natürlich nicht der politischen Polizei des Kaiserreiches. Nach monatelangen Bespitzelungen, und nach einer Hausdurchsuchung im Oktober 1893 wurde Gustav Landauer verhaftet. Am 1.11.1893 wird er zu zwei Monaten Gefängnis, wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt“, verurteilt. Dieses Strafmaß wurde am 22.12. wegen „Aufreizung“ um neun Monate erhöht. Im Gefängnis zu Sorau verbüßte Landauer die Gerichtstrafe, hier schrieb er einige Kapitel der Novelle „Anton Himmelheber“ Geschichte unserer Liebe“. Auch Notizen, die Spätsommer 1895 mit dem Titel „Aus dem Gefängniss - Tagebuch“, im sozialistischen Akademiker veröffentlicht wurden, wurden geschrieben.

Oktober 1893 wurde also die politische Verwirklichung des sozialen Kulturoptimismus zwangsbeendet. Im Gefängnis wurde Gustav Landauer klar: „Ich werde jetzt wieder für mich schreiben“. Dort fand er Abstand zum „Sozialist“. Nicht die tagespolitische Aufklärung der Arbeiter, sondern die geistige Vertiefung ganzheitlichen wissenschaftlich - künstlerischen Welterlebens stand im Vordergrund. Das er ein Mensch der Freude ist, stellte Landauer im Gefängnis fest. Die Zeit des Sozialisten, und sein Einsatz für die Arbeiterschaft, die ihm das Gefängnis einbrachte, wurde nicht bereut, Märtyrer sei er nicht. Landauer rechnete mit der Morallehre Immanuel Kants, sowie dem Pessimismus Arthur Schopenhauer ab. Verabsolutiert systematische Begrifflichkeit, sowie metaphysischer Wille lassen sich mit anarchistischem Geist und den zu verwirklichenden Sozialismus nicht vereinbaren. Landauers Lebensdrang ließ die beiden Philosophen als Theoretiker, denen die „Utopie“ nicht wichtig ist, beurteilen. Die gelehrte Philosophie wurde nicht seine Sache. „Unsere Weltanschauung ist nicht Wissenschaft, nicht bloß Theorie nicht bloß Kopf - sie ist Leben, Herz - Liebe." Stirner, Mackay und Nietzsche waren ihm in der Gefängniszelle näher. Diese Autoren „sind liebende, nur schämen sie sich und verstecken ihr Herz hinter dem Kopf“. Obwohl sie sich gegen das Denken der „zweiten Ordnung“ auflehnten, sind sie doch keine großen Liebenden. Sie kennen nicht die utopische Alternative zur bestehenden, bürgerlichen Ordnung: Die Verwirklichung des Kulturoptimismus, die sich mit dem dogmenfreien Sozialismus manifestiere. Festgehalten wird an Nietzsche, dessen leidenschaftliche Kritik, nicht aber an seinem Menschenbild. Nietzsches Kritik am Bestehenden sei eine Schubkraft des sozialistischen Ideals. Anarchistisches Denken bedeutet die Abwesenheit des verkehrten, dogmatischen Denkens. Mit dem ganzheitlichen Denken und Handeln werde die Herrschaftsfreie Gesellschaft gebaut. Anarchistischer Sozialismus ist die Alternative zum bürgerlich philosophisch - politischen Stumpfsinn, und den sozialdemokratischen Dummheiten. „Mein Leben braucht Abschlüsse, die nicht Abschlüsse sind, sondern Verbindungen mit der Unendlichkeit; nur da bin ich groß erhoben wo ich mich in allumfassender Liebe eins fühle mit dem All der Welt - dann bin ich ganz... Aus sich herausgehen können oder vielmehr - sich selbst hinaustragen in die freie Natur das ist alles was dazu gehört ...“Der Mensch kann sich verwandeln, denn er trägt gar vieles in sich und die besten haben alles bei sich... gehet hinaus ins Freie, öffnet eure Lippen und eure Herzen und - schliesst eure Reihen... Denket an die Ewigkeit und dann an eure Winzigkeit, dann werdet ihr gross leben, als ihr nur vermöget... Alles lebt mit mir... auf das der Sonntag dem gequälten Volk komme!“

Der Nihilismus, der aus Nietzsches Kritik folgt, ist Landauers Sache nicht gewesen. „Nietzsche in Ehren, aber es ist nichts mit der Bosheit, ich kann es nicht. Güte, große unendliche Güte - das thut uns noth, und die will heute so warm aus mir hinausströmen in alle Welt.“ Der anarchistische Sozialist ist der Künder einer neuen Zeit, nicht ein gelehrter Philosoph“: „der Wind, dessen erstes Säuseln wir verspüren will zu einen Geiste werden und voll frischen Geistes und starker Seele müssen die sein die mit den Flügeln des Windes segeln wollen... Die Wirklichkeit wo es sich nicht mehr um Begriffe, sondern um Realitäten handelt ist weit schlimmer als die allerpathetischsten Anklagen vermuten lassen.“ Gustav Landauer war kein Gelehrter, der die Welt philisterhaft auf eine starre Begrifflichkeit reduzieren wollte, sondern ein anarchistischer Sozialist welcher die Welt ganzheitlich erleben wollte. Die Leidenschaften, die menschlichen Affekte wurden berücksichtigt, aber nicht im umfassend systematischen Ethikverständnis Benedictus de Spinoza, sondern als machtvolle Schubkraft für „neue Existenzbedingungen.“ Ganzheitliches Welterleben, nicht eine abstrakt - dogmatische Begrifflichkeit sind ihm weiterhin wichtig: für „den neuen Geist“, mit dem die freiheitliche Gesellschaft aufgebaut werden kann. Mit Moralvorstellungen, die ein Resultat dogmatischen Verstandesdenken sind, können Affekte nicht adäquat verstanden werden. Das wissen wir bereits aus dem Moralaufsatz. Eine revolutionäre Ethik, nicht eine Moral sei Ausdruck ganzheitlichen Welterlebens. Diese Ethik würde die leidenschaftlichen Affekte für die Verwirklichung der „Utopie“ berücksichtigen. Nicht metaphysisch, wie Landauer dem Philosophen Spinoza unterstellt, sondern hinsichtlich einer nichtmetaphysischen Affektenlehre. Das Verhältnis einer revolutionären Ethik zu Moralvorstellungen wurde im Gefängnis zum Thema. Dieses Thema wurde literarisch gestaltet. Davon zeugt die in der Haft begonnene Novelle „Arnold Himmelheber“. In dieser werden zwei Liebende dargestellt, die trotz widriger Umstände, zusammenfinden. Die seit einigen Jahren mit dem Juden Wolf Tilsiter unglücklich verheiratete Judith, und der angehende praktische Arzt Ludwig Prinz verbindet eine innige Jugendliebe. Beide sind von der Sehnsucht erfüllt, das sie sich wieder finden. Arnold Himmelheber, nicht mehr praktizierender Arzt, der Ludwig Arzt zu werden ermöglichte, kennt die Sehnsucht der beiden. Himmelheber gibt seinem Ziehsohn den Tip er sollte das Leben ergreifen und genießen, und zwar gemäß seinen Sehnsüchten. Ludwig gibt eine Annonce auf, in der er eine Frau sucht. Judith meldet sich, und die beiden finden zusammen.

Fünf Kapitel dieser Novelle schrieb Gustav Landauer im Gefängnis. Das sechste, das eine extreme Radikalisierung der Haltung Himmelhebers darstellt, wurde nach der Haft geschrieben. Das moralisches Verhalten das Glück liebender Menschen verhindern kann, zeigt die Novelle, aber auch: Liebe ist stärker als eine bestehende Ordnung und deren Moralvorstellungen. Das Menschen leben, denen das Glück der Menschen wichtiger ist als eine festgefügte Moralordnung wird hier gezeigt. Himmelheber gehört zu den Menschen die der Liebe, nicht der Moral verpflichtet sind. Deswegen kann er sich der Verwirklichung eines besseren Zustandes - hier der Liebe zweier Menschen - widmen. Himmelheber kann den Leidenszustand zugunsten der Liebe beenden. Die Freiheit, die Liebe soll leben - nicht eine moralische Knechtschaft. In dieser Novelle wird der Mensch nicht in Hinsicht der zu verwirklichenden anarchistisch - sozialistischen Gesellschaft gezeigt, sondern als geglücktes Leben zweier Menschen. Leidenschaftliche Befreiung wurde literarisch, nicht politisch gestaltet. Gustav Landauer nutzte die Freiheit der Kunst, nach seinem Ausschluß von den Universitäten des deutschen Kaiserreiches voll aus. Das zeigt das sechste Kapitel der Novelle.

Am 13. 9.1894 wurde er aus dem Gefängnis Sorau entlassen. Die Zeit im Gefängnis brachte eine geistige Vertiefung, die im Rahmen moralischer Vorstellungen - revolutionärer Ethik, literarisch gestaltet wurde. Landauer nahm dort aber auch Abschied vom gelehrten philosophischen Wissen, mit dem die Welt auf starre Begrifflichkeit reduziert wird. Nicht eine Morallehre, nicht der Pessimismus, und auch nicht der Nihilismus, sondern leidenschaftliche Kritik an bestehenden Verhältnissen - die zu überwinden seien - waren Landauer wichtig. Diese leidenschaftliche Kritik war der zu verwirklichenden „Utopie“, den Aufbau einer herrschaftsfreien Gesellschaft verpflichtet. Die Befreiung vom dogmatischen Denken ist eine Vorraussetzung für den zu verwirklichenden freiheitlichen Sozialismus.

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